Der folgende Artikel entstand vor einigen Jahren und wurde in einer namhaften Reise-Zeitschrift veröffentlicht – die begleitenden Bilder waren damals allerdings nicht von mir, die hier verwendeten sind es schon. Viel Spaß beim lesen und schauen:

„Ich drehe am Objektivtubus. Gerade nimmt die Emilia Romagna scharfe Konturen an, als mich eine männliche Stimme freundlich zwingt, mein Auge vom Sucher der Kamera zu trennen. Die Stimme spricht italienisch. Ich kann kein italienisch. Also verstehe ich natürlich auch fast kein Wort. Außer Mille Miglia. Das verstehe ich. Deswegen bin ich hier.

Die Mille Miglia gilt als das schönste Autorennen der Welt. Jedes Jahr im Mai setzen sich hier Motorsportbegeisterte aus aller Welt in ihre historischen, teils unbezahlbaren Automobile und jagen 1000 Meilen bzw. 1600 Kilometer ohne Rücksicht auf Wertverlust durch Norditalien. Gestartet wird am Donnerstagabend im lombardischen Brescia. Ferrara ist das nächtliche Ziel der ersten Etappe. Am Morgen geht es weiter nach Süden. Ravenna und Urbino werden passiert. Und schließlich geht es in den zumeist dachlosen Fahrzeugen über den schneebedeckten Monte Terminillo nach Rom. Dort startet dann am Samstag die letzte und längste Etappe. Durch die Toskana geht es nach Norden. Siena und Florenz werden durchquert und schließlich geht es in der Emilia Romagna durch Bologna, die Ferrari-Stadt Modena und Reggio Emilia zurück nach Brescia. Dabei variiert die Streckenführung von Jahr zu Jahr ein wenig.

Jetzt ist Samstag. Heute Abend erreichen die erschöpften Teilnehmer des Rennens in der Dunkelheit ihr Ziel in Brescia. Ich stehe an einer Landstraße nahe Reggio Emilia in der flirrenden Nachmittags-Hitze, um rasende Oldtimer zu fotografieren und blicke gerade von meiner Kamera auf. Vor mir steht ein kleiner dicker Italiener, Mitte Vierzig. Wenn sie jetzt an Danny de Vito denken, nur etwas größer, liegen Sie richtig. Freundlich erwartungsvoll blickt er mich an. „Non parlo italiano,“ sage ich und gestikuliere bedauernd. Ihm macht das gar nichts aus. Freundlich winkt er ab und redet munter darauf los. Alles, was ich verstehe ist „belle macchine“ – schöne Autos. Das stimmt. Die werden wir gleich sehen. Ich wende mich wieder meiner Kamera zu. Diese Strebsamkeit gefällt dem Mann. Energisch nickt er mir zu. Und da kommen sie auch schon.

Doch bevor wir sie sehen, hören wir sie. Drum and Bass für die Liebhaber alter Autos. Löwengleich gefährlich brüllen sie beim Beschleunigen oder maulen brabbelnd beim Bremsen. So ganz anders als das hysterische Gekreische moderner Renn-Motoren. Kein Wunder. Denn teilnahmeberechtigt sind nur Fahrzeuge, die zwischen 1927 und 1957 gebaut wurden. Und sie müssen einer Baureihe entstammen, aus der ein Wagen an der ursprünglichen Mille Miglia teilgenommen hat.

Dieses legendäre Straßenrennen fand 1957 wegen eines tragischen Unfalls das letzte Mal statt. Das Rennen war fast beendet, als nach nahezu 1600 Kilometern der Fahrer eines Ferraris durch einen Reifenschaden die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Mit 300 km/h raste der Neffe des spanischen Königs in die Zuschauer. Fahrer, Beifahrer sowie zehn Zuschauer verloren ihr Leben. Die italienische Regierung zog sofort Konsequenzen und verbot alle Straßenrennen dieser Art. Und somit endete auch die Geschichte des berühmten Straßenrennens, die 1927 in Brescia ihren Anfang nahm. Aber es war nur ein vorläufiges Ende. Denn das legendäre Rennen bewegte die Menschen weiter. Und so erlebte es zwanzig Jahre später seine Wiedergeburt. Im Mai 1977 senkte sich erstmals die Startflagge der Mille Miglia Storico.

„Ferarri. Ferarri.“ Da ist der erste Wagen. Der Italiener an meiner Seite rastet vor Begeisterung fast aus. Ein knallroter Blitz donnert am mir vorbei und hinterlässt eine Wolke aus Benzin und verbranntem Motoröl. Als er in einer Kurve elegant aus meinem Blickfeld fegt, heult er noch einmal auf. Wahrscheinlich nur, um mir klar zu machen, dass ich vergessen habe auf den Auslöser meiner Kamera zu drücken.

„Mercedes.“ Dany de Vito warnt mich. Mercedes findet er auch ganz gut, aber doch nicht ganz so gut wie Ferrari. Aber diesmal surrt der Motor meiner Kamera. Auch die nachfolgenden Fahrzeuge werden abgelichtet. Jedes unverwechselbar in Form, Bewegung, Klang. Und jedes fachkundig von meinem neuen Bekannten der jeweiligen Marke zugeordnet.

So ziehen sie nach und nach alle an mir vorbei – die rund 360 Wagen, die ich vor zwei Tagen in Brescia bewunderte, fotografierte und manchmal sogar ein wenig ehrfürchtig berühren durfte. Dazu bietet der Donnerstag ja auch ausgiebig und hautnah Gelegenheit.

Denn vor dem abendlichen Start findet auf der Piazza della Vittoria in der historischen Altstadt immer die technische Abnahme der Fahrzeuge statt.  Dann verwandelt sich die norditalienische Stadt jedes Jahr für einen Tag zum lebendigsten Oldtimer-Museum der Welt. Sauber aufgereiht wie an einer Perlenschnur warten die alten, aber keineswegs greisen, Boliden auf die kritischen Blicke und Fragen der technischen Kommissare.

Da stehen mobile Raritäten, von denen nur noch ganz wenige existieren oder je existiert haben. Marken, wie Osca, Riley oder Frazer-Nash, die es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt, haben ihren Platz zwischen den berühmten Urahnen der modernen Ferraris oder Silberpfeile. Riesige Bentleys mit acht Litern Hubraum dulden ultraflache Jaguars oder kugelige Isettas neben sich. Keine Absperrung, keine grimmigen Wachleute trennen die begeisterten Zuschauermassen von den unbezahlbaren Automobilen. Doch die Menschen gehen respektvoll mit ihnen um – fast so, als wären sie lebendige Wesen. Kein Neid, nur Bewunderung und Hingabe, erfüllt heute die Straßen Brescias. Selbst auf nicht besonders Auto affine Zeitgenossen und Genossinnen färbt die Begeisterung ab. Niemand kann sich der Faszination der Mille Miglia entziehen.

Von überall kommen die Menschen, um sie zu erleben. Unzählige von ihnen reisen selbst in Oldtimern an. Schnell kommt man sich näher. Bei Kaffee oder einem Gläschen Wein werden Kontakte geknüpft und Erfahrungen ausgetauscht. Bekannte aus dem letzten Jahr begrüßt, oder Neulinge zu Insidern gemacht.  Man macht kein Geheimnis aus den schönsten Streckenabschnitten oder Straßen-Cafés, an denen die Wagen direkt vorbeifahren.  Niemand wird ausgeschlossen.

Mitten drin in dem Gewimmel entdecke ich immer wieder bekannte Gesichter aus Wirtschaft, Sport und Fernsehen. Ehemalige Rennfahrer wie Jackie Ickx und Jochen Maas zählen fast zum Stammpersonal. Boris Becker ist genau wie Jürgen Schrempp schon mitgefahren, um nur einige zu nennen. Beide fuhren natürlich in einem Mercedes 300 SL Flügeltürer. Offen fahren eben nur die Helden. Und Helden werden in Italien gefeiert.

„Forza. Forza.“, feuern dicht gedrängt stehende Menschen die Fahrer und die Autos an, wenn es durch mittelalterliche, enge Ortsdurchfahrten geht. Und die Autos brüllen zum Entzücken der Menge zurück. Niemand fordert dann eine Umgehungsstraße. Im Gegenteil. So nah, wie es nur irgendwie geht, wollen alle dem Geschehen sein. Ich sah eine alte Frau, siebzig schätze ich, wie sie die Hand ausstreckte, um den Beifahrer eines Alfa Romeos zu berühren. „Ciao, bello“, rief sie ihm lachend zu. Ihre Augen leuchteten, wie die eines jungen Mädchens.

Positive Energie, wo man auch hinschaut. So wie bei meinem Nachbarn, der mir jetzt seit fast zwei Stunden nahezu jedes Auto persönlich vorstellt. Oder besser gesagt fast jedes. Denn plötzlich rast ein dunkelblaues Fahrzeug an ihm vorbei. Das kennt er nicht. Es ist ihm fast peinlich, dass er mir die Marke nicht sagen kann. Endlich ist meine Stunde gekommen. Ich sage: „Jaguar. D-Type.“

„Ahh. Bella, bella.“ Jetzt bin ich endgültig sein Freund. Aber kurze Zeit später beginnt der Strom alter Rennwagen langsam zu versiegen. Der Straßenverkehr übernimmt wieder die Regie. Dany de Vito und ich spüren, wie der Zauber verfliegt. Wir sehen uns an und zucken mit den Schultern. Es ist Zeit für ihn zu gehen. Er verabschiedet sich per Handschlag von mir. „Ciao“, strahlt er mich an und verschwindet in der italienischen Landschaft. Er ist kein reicher Mann und wird wohl nie eins dieser Autos fahren, die er so bewundert und die er so gut kennt. Aber Zuhause hat er viel zu erzählen. Genau wie ich.

Grazie mille, Mille Miglia. Und ich werde italienisch lernen. Für das nächste Mal.“

Soweit so gut. Demnächst gibt es noch mehr Bilder von Mille Miglia. Aber dazu muss ich mich noch weiter durch das Archiv wühlen.